Spuren im Stadtbild – Teil 1
Städtebauliche Auswirkungen einer Unternehmensgeschichte
Infolge der fortschreitenden Industrialisierung wächst nicht nur das Grusonwerk über den ursprünglichen Eisengießerei- und Maschinenfabrikstandort an der Mündung zur Sülze über Buckau hinaus. Spuren hinterlässt das Maschinenbauunternehmen im Magdeburg des 19. und 20. Jahrhunderts auch jenseits der Fabrikgelände. Damit wird es Teil einer Entwicklung, in dessen Rahmen besonders an den Stadträndern der vormalige Ackerbürgercharakter zunehmend dem Erscheinungsbild einer Fabrikstadt weicht. Zu den in diesem Kontext realisierten Bauten und Räumen zählen soziale Projekte wie beispielsweise Siedlungen und Gartenstadtkolonien sowie kulturelle und öffentliche Einrichtungen, die das Stadtbild Magdeburgs auf dem Weg in die Moderne und darüber hinaus prägen.
Erste Schritte in Richtung sozialer Wohnraum
Am 27. Februar 1893, etwa zwei Monate vor der Übernahme des Grusonwerks durch Friedrich Alfred Krupp, wird mit dem Spar- und Bauverein die erste Magdeburger Baugenossenschaft gegründet. Initiator der anfänglich 92 Mitglieder umfassenden Genossenschaft ist der Geheime Regierungs- und Gewerberat Dr. Max Hirsch, der sich bereits seit seiner Niederlassung als Kaufmann und Verlagsbuchhändler im Jahr 1863 sozialpolitisch in Magdeburg engagiert und die demokratische Vereinsbewegung fördert.
Abb. 1: Schriftzug des Spar- und Bauvereins auf dem Eckhaus an der Helmholtz- und Kutzstraße
An der Gründung der Baugenossenschaft ist überdies Dr. Hermann Gruson, der Sohn des Firmengründers, beteiligt. Sein Ziel ist es, die Wohnungsversorgung der damals mehr als 2.400 Beschäftigte zählenden Belegschaft zu gewährleisten und zu verbessern. Damit begegnet das Unternehmen drängenden sozialen Fragen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Denn die Wohnverhältnisse für Arbeiter sind in den durch die Industrialisierung rasant anwachsenden Städten katastrophal: Durch den zunehmend knapper werdenden Wohnraum steigen die Mieten ins Unermessliche, während Arbeiter sich oftmals Betten im Schichtdienst in mehrfach belegten Wohnungen teilen müssen.
Das soziale Engagement des Grusonwerks stellt zum Zeitpunkt der Gründung des Spar- und Bauvereins kein Novum dar. Bereits 1859 sorgt der Firmengründer Hermann Gruson infolge eines Streiks für eine sozialere Lohnpolitik, die bewirkt, dass es sich bei diesem Streik um den einzigen unter Grusons Leitung handeln wird.
Nach der Sicherung von Bauland beginnt der Spar- und Bauverein im Jahr 1900 mit der Errichtung einer Zeile von 16 Häusern mit insgesamt 177 Wohnungen an der Dodendorfer Straße in Buckau, direkt gegenüber des Krupp-Grusonwerks. Zu diesem Zeitpunkt engagiert sich auch erstmals die Firma Friedrich Krupp und sichert mittels zinsgünstiger Kredite Belegungsbindungen für Betriebsangehörige. Dadurch können die Mitarbeiter des Unternehmens eine angemessene Anzahl von Wohnungen in der 1905 fertiggestellten Siedlung in Anspruch nehmen. Ab 1911 wird im Zuge des durch den Spar- und Bauverein in der Neuen Neustadt durchgeführten Bauvorhabens auch die Bebauung an der Dodendorfer Straße fortgesetzt. Durch eine Hauszeile an der Kruppstraße und drei Wohnblöcke an der Dodendorfer Straße entstehen 180 weitere Wohnungen. Nach Errichtung des Eckhauses Dodendorfer Straße 14 sieht sich der Spar- und Bauverein schließlich gezwungen, seine weiteren Pläne aufzugeben, da mit Beginn des Ersten Weltkriegs ein Verbot über jedwede Bautätigkeit durch die Militärbehörde verhängt wird.
Abb. 2: Eckhaus Dodendorfer Straße 14
Gartenstadt-Kolonien
In den Jahren 1908 und 1909 werden die Grundsteine für weitere stadtbildprägende Projekte gelegt. Sie gehen zurück auf das Modell eines neuen Stadttypus, durch den eine tiefgreifende Wohnreform angestrebt wird: der Gartenstadt. Vertreten wird die Reformbewegung durch die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft, die sich englischen Vorbildern folgend 1902 in Berlin gründet. Deren sozialpolitische Agenda knüpft ferner an das Programm des von Adolf Damaschke gegründeten Bundes deutscher Bodenreformer an, der sich seit 1898 zum Ziel setzt, Bodenspekulationen zu regulieren und durch die Vergabe städtischer Bauflächen an Genossenschaften einzuschränken.
Abb. 3: Mitglieder der Magdeburger Genossenschaft Reform
Auf Initiative von Ingenieuren der Maschinenfabrik R. Wolf und des Krupp-Grusonwerks wird am 24. September 1908 die Magdeburger Ortsgruppe der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft gegründet. Daran anschließend rufen Arbeiter des Krupp-Grusonwerks am 6. Dezember desselben Jahrs mit 19 Mitgliedern die Genossenschaft Reform ins Leben. Am 23. April 1909 erfolgt darüber hinaus die Gründung des Bauvereins der Gruson-Beamten für leitende Angestellte des Maschinenbauunternehmens. Sowohl die Genossenschaft als auch der Bauverein münden im Bau von Gartenstadt-Kolonien, denen jedoch unterschiedliche Konzepte zugrunde liegen.
Gartenstadt-Kolonie Reform
Durch die genossenschaftlich initiierte Gartenstadt-Kolonie Reform werden in Magdeburg die ursprünglichen Zielsetzungen der Gartenstadt-Gesellschaft am konsequentesten realisiert, da hier Selbstbestimmung und Wege aus der Wohnungsmisere der Arbeiterfamilien an oberster Stelle stehen. Durch Verdeckung des genossenschaftlichen Charakters, der die für den Erwerb von Bauland notwendigen Banken skeptisch gegenüberstanden, gelingt es eine zwölf Hektar umfassende Fläche westlich der Leipziger Chaussee aufzukaufen. Hier entstehen in mehreren Bauetappen zwischen 1911 und 1930 insgesamt 1.250 Reihenhauswohnungen durch regelmäßige Eigenleistungen von 784 Mitgliedern. Sie zählen zu den günstigsten in ganz Deutschland, was vor allem auf das Prinzip der Selbsthilfe zurückzuführen ist. So übernahmen beispielsweise die Anwohner auch die Pflasterung von Privatstraßen.
Abb. 4: Anzeige für die Gartenstadt-Kolonie Reform
Für die erste Bauphase zeigen sich die Architekten und Gartenstadtexperten Hans Kampffmeyer und Hans Bernoulli verantwortlich. Auf sie gehen die Entwürfe der ersten vier Einfamilien-Gruppenhäuser für insgesamt 20 Familien zurück, von denen das erste im März 1912 Am Verlorenen Grundstein bezogen wird. Ausgeführt wird der Bau durch das Magdeburger Baugeschäft August Glimm. Eine Wohnung umfasste ein Wohnzimmer mit 14 Quadratmetern, eine Küche mit 11 Quadratmetern, eine Waschküche mit 7 Quadratmetern und zwei Kammern mit 19,5 bzw. 15,2 Quadratmetern. Hinzu kamen eine kleine Stallung sowie ein Vor- und Gemüsegarten mit einer Gesamtfläche von 250 Quadratmetern.
Anfang 1913, acht Jahre bevor er durch die Unterstützung des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters Hermann Beims zum Stadtbaurat ernannt wird, übernimmt der Berliner Architekt Bruno Taut die Gesamtplanung für den Weiterbau der Gartenstadt-Kolonie Reform. Durch ihn erhält das „Neue Bauen“ Einzug in das Magdeburger Stadtbild. Stilistisch bricht Taut sowohl mit dem Landhausstil der ursprünglichen Gartenstadtmodelle als auch mit dem bis dato vorherrschenden Historismus. Gegen den offenen Widerstand von konservativen Kräften sucht er durch die neuartige Architektur trotz beschränkter finanzieller Mittel die größtmögliche Funktionalität des Wohnraums zu gewährleisten.
Abb. 5: Häuser am Bunten Weg
Tauts heute als beispielhaft geltende Gartenstadtsiedlung zeichnet sich durch kleinräumige und sonnige Straßenzüge aus. Dank des Fluchtlinienplans – die Straßenzüge waren nordsüdlich ausgerichtet – können die täglichen Lichtverhältnisse vorteilhaft für Häuser und Gärten genutzt werden. Charakteristisch für das Erscheinungsbild von Tauts Reihenhäusern ist überdies die farbenfrohe Gestaltung ihrer Fassaden, die die einzelnen Häuser trotz der einheitlichen Bauweise abwechslungsreich erscheinen lässt. Für die ab 1921 vollzogenen Bauphasen übernimmt der von Bruno Taut zum Leiter des Entwurfsbüros im Hochbauamt Magdeburg berufene Architekt Carl Krayl die Gestaltung der farbigen Fassaden, die zur überregionalen Wahrnehmung von Magdeburg als „bunter Stadt“ beitragen.
Gartenstadt-Kolonie für leitende Beamte des Krupp-Grusonwerks
Mit der Gründung des Bauvereins der Grusonwerk-Beamten strebt die Leitung des Krupp-Grusonwerks die Errichtung von standesgemäßen Wohnhäusern für leitende Werksangestellte am grünen Stadtrand Magdeburgs an. Zudem sollen durch dieses Vorhaben ingenieurtechnische und kaufmännische Fachkräfte angeworben werden. Da man hier mit freistehenden Häusern im konservativen Villenstil in erster Linie den standesbewussten Wohnansprüchen der umworbenen Klientel gerecht zu werden sucht, unterscheidet sich diese Siedlung schon allein architektonisch vom ursprünglichen Modell der Gartenstadt sowie den reformerischen Ideen der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft.
Abb. 6: Entwurf für ein Doppelwohnhaus für Grusonwerk-Beamte
Das Areal für die geplante gartenstädtische Anlage liegt parallel zur Leipziger Chaussee, südlich der Brenneckestraße. Das zu diesem Zeitpunkt bereits vom Fiskus erworbene Bauland gehörte ursprünglich zum Militärgelände Fort II. In diesem Zusammenhang wurde es von der dort stationierten Artillerieeinheit als Abstellplatz der Geschützanhänger – sogenannte „Protzen“ – genutzt. Dass die hier entstehende Beamtensiedlung schließlich von den Bewohnern der benachbarten Gartenstadt-Kolonie Reform „Protzenheim“ getauft wird, hat also nicht in erster Linie mit den sich dort niederlassenden gut situierten Werksangestellten zu tun.
Anders als bei den unternehmenseigenen Werkssiedlungen, tritt das Krupp-Grusonwerk hier nicht selbst als Bauherr auf, sondern als Förderer des Bauvereins der Grusonwerk-Beamten. Das Unternehmen ermöglicht die Überlassung eines Grundstücks und gewährt Darlehen in Höhe von bis zu 200.000 Mark für den Bau von Häusern. Die Mietverträge für die Wohnungen in der Gartenstadt-Kolonie für leitende Werksangestellte sind an das Beschäftigungsverhältnis gebunden. Dem Krupp-Grusonwerk ist eine Kündigungsfrist von drei Monaten vorbehalten, falls ein Mieter seine Stellung im Unternehmen aufgibt.
Abb. 7: Doppelhaus in der Alfredstraße 23
In den Jahren 1910 und 1911 werden schließlich die ersten Ein- und Zweifamilienhäuser nach den Plänen des Magdeburger Architekturbüros Sack & Co erbaut. Die drei Straßen der entstehenden Siedlung tragen die Namen von Angehörigen der Familie Krupp: Alfredstraße, Berthastraße und Barbarastraße (heute Paul-Schreiber-Straße, Paracelsusstraße und Louis-Braille-Straße). 1921 wird der Bau mit der Errichtung drei weiterer Gebäudekomplexe fortgesetzt, die als Etagen- und Mehrfamilienhäuser konzipiert sind. Im Folgejahr wird dann das letzte Gebäude fertiggestellt, das an der Berthastraße die Beamtensiedlung in Richtung der Gartenstadt Reform abschließt.
Quellen
Helmut Asmus: 1200 Jahre Magdeburg von der Kaiserpfalz zur Landeshauptstadt, Bd. 3, Die Jahre 1848 bis zur Gegenwart, Magdeburg: Eigenverl. d. Autors, 2005.
Gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft Gartenstadt-Kolonie Reform eG: „1909 Gründung Bauverein der Grusonwerk-Beamten“ (05.03.2020).
Christoph Kretschmann: Vom Grusonwerk zum SKET – 150 Jahre Industriegeschichte, Magdeburg: Delta-D, 2.Aufl., 2007.
Landeshauptstadt Magdeburg (Hrsg.): Gartenstadt-Kolonie Reform, Broschüre des Stadtplanungsamts Magdeburg, Magdeburg: 1995, Heft 16.
Dies. (Hrsg.): Soziale Bauherren und architektonische Vielfalt: Magdeburger Wohnungsbaugenossenschaften im Wandel, Broschüre des Stadtplanungsamts Magdeburg, Magdeburg: 1996, Heft 45.
Michael Stöneberg: „Magdeburg – Reformstadt der Moderne. Ein Rundgang“, in: Reformstadt der Moderne. Magdeburg in den Zwanzigern, Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Magdeburg, 8. März bis 16. Juni 2019, hrsg. v. Gabriele Köster und Michael Stöneberg, Magdeburg: Kulturhistorischen Museum Magdeburg, 2019, S. 92-121.
Mathias Tullner: „Industriestadt und Großstadtentwicklung. Magdeburg im Kaiserreich (1871-1914)“, in: ebd., S. 18-45.
Sabine Ullrich: „Architektur und Stadtplanung in Magdeburg 1919-1933“, in: ebd., S. 122-171.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Archiv Magdeburger Wohnungsbaugenossenschaft von 1893 eG
Abb. 2: Archiv Magdeburger Wohnungsbaugenossenschaft von 1893 eG
Abb. 3: Archiv GWG Gartenstadt-Kolonie Reform eG
Abb. 4: Archiv GWG Gartenstadt-Kolonie Reform eG
Abb. 5: Archiv GWG Gartenstadt-Kolonie Reform eG
Abb. 6: Archiv GWG Gartenstadt-Kolonie Reform eG
Abb. 7: Privat; Landeshauptstadt Magdeburg (Hrsg.): Soziale Bauherren und architektonische Vielfalt: Magdeburger Wohnungsbaugenossenschaften im Wandel, Broschüre des Stadtplanungsamts Magdeburg, Magdeburg: 1996, Heft 45, S. 60.